Case Story. 01.09.2020
Drei bis sieben Befehle in der Sekunde geben die Gamer – die Augen starr auf den Bildschirm gerichtet – über Maus und Tastatur an ihre Charaktere ein. Dabei sitzen sie nicht in ihren Zimmern, sondern in einem Stadion im polnischen Kattowitz – und Millionen Menschen schauen zu. „Und das sind ja nur die Aktionen, die man sieht. Vorher läuft ein hochstrategischer Entscheidungsprozess ab.“, begeistert sich Ralf Reichert, Geschäftsführer und zweitgrößter Gesellschafter von Turtle Entertainment. Gründer und Visionär Jens Hilgers fügt hinzu: „Ich wusste immer, dass wir E-Sport als Zuschauersport etablieren können. Ich wusste aber auch, dass es Jahrzehnte dauern würde.“

Pizza, Cola und LAN-Parties
Wie zahlreiche unternehmerische Erfolgsgeschichten startet auch diese in Garagen und Kellern: Da treffen sich die Jugendlichen, um sich ins Computerspiel zu versenken. Nach ein paar Stunden liegen Pizzaschachteln und Cola Dosen auf dem Boden. Manch einer schläft zwischendurch in der Ecke. Alle anderen stieren auf ihre Bildschirme. Auch Computer-Geek Jens Hilgers gehört dazu. Manchmal spielt er auch beim Nachbarn auf dessen ZX Spectrum. Ab 1997 programmiert Hilgers Webseiten für Quake und andere seiner Lieblingsspiele. Und er gründet – nur getrieben von seiner Vision und Leidenschaft und unterstützt von einem Netz aus Freiwilligen – das Gamers Network: ein Netzwerk aus Webseiten zum Themenbereich Online-Gaming. Er kann sogar seinen damaligen Arbeitgeber dazu bewegen, die Server dafür zu sponsern. Schon 1998 wird ein Teil des Gamers Network zur Deutschen Clanliga DeCL. Doch Deutschland ist nicht genug: Aus DeCL schafft Hilgers die Electronic Sports League, damals abgekürzt als ESPL.

Dann – Anfang der Nuller Jahre – explodiert die Dotcom-Blase. Hilgers ist inzwischen staatlich geprüfter Informatiker. Aber vor allem Unternehmer, der pleite und mit 400.000 Euro privater Haftung im Nacken „die größte Liga für Computerspieler der Welt“ aufbauen will. Er sucht nach Investoren. Dafür fährt er mit dem Auto quer durch Mitteleuropa. „Ich wollte mein Baby wiederhaben, ich wollte weitermachen. Ich habe da so fest dran geglaubt“, erinnert er sich. Er trifft auf Tobias Engelhardt, damals noch Gesellschafter von area 5F. Der ist so überzeugt, dass er privat investiert. Gemeinsam gründen sie die Online-Gaming-Firma Turtle Entertainment GmbH. Engelhardt weiß, wie man Unternehmen saniert und auf absoluter Sparflamme holen sie Stück für Stück die Assets aus der Insolvenz heraus. Rückblickend sagt Engelhardt: „Ich habe nicht verstanden, was genau ihr machen wolltet, aber ich war davon überzeugt, dass ihr es schafft.“ Für einen deutschen Beteiligungsgesellschafter ist das ein mutiger Schritt. Denn Engelhardt investiert nicht in ein Produkt, sondern in eine diffuse Vision, die zehn Jahre brauchen würde, um sich zu etablieren. Und auch, als Turtle Entertainment zum x-ten Mal das Game Over auf sich zukommen sieht, erweist er sich als loyaler Partner, der mit Geduld und Geschick zur Seite steht.
In den ersten vier Jahren sucht die Kölner Online-Gaming-Firma nach ihrer Identität. Nach und nach verlässt sie die vielen Fronten, an denen sie kämpft – darunter ein Content-Magazin, eine Game-Server-Vermietung und Programmierungsarbeiten – und konzentriert sich zunehmend auf E-Sport Turniere. „Für uns war es total logisch, dass Computerspielen ein Zuschauersport ist.“, versichert Ralf Reichert. Und der logistische Vorteil von E-Sport sei ganz klar, dass es – anders als beim Fußball – keine geografisch bedingten Grenzen gäbe. Schließlich könne man zu jeder Tages- und Nachtzeit online Teamkameraden finden und gemeinsam spielen.

Ein jahrelanger Hindernisparcours
Die Geschichte von Turtle Entertainment liest sich wie die eines eingeschworenen Gesellschafterteams auf einer langwierigen Mission, die trotz erheblicher Widerstände erfüllt wird. Mag sein, dass die „stehaufmännchenartigen Helden“ durch das Computerspiel den nötigen Atem entwickelt haben: Sie laufen buchstäblich zehn Jahre lang über einen Hindernisparcours, werden hier niedergerungen, stoßen da gegen die Wand einer Sackgasse. Das Schicksal teilt ihnen stets in vielfältigen Variationen dieselbe Botschaft mit: „Ihr seid zu früh für den Markt.“
Nichtsdestotrotz können sie Erfolge verbuchen und strategische Partnerschaften knüpfen, wie beispielsweise diejenige mit INTEL im Jahr 2001. Und nichtsdestotrotz kämpfen sie weiter, wachsen mit internem Cashflow, veranstalten ab 2006 die erste globale Turnierserie und erweitern ihr Geschäft durch ausländische Lizenznehmer. Natürlich holen sie sich auch hier blutige Nasen: Wie in China, wo Jens Hilgers sechs Jahre lang vergeblich versucht, das Asien-Geschäft aufzubauen. 2016 jedoch klappt es: Turtle Entertainment veranstaltet das erste Stadion-Event in Asien.
Ebenfalls viel zu früh kauft Hilgers die Kontrolle an GIGA TV, damals der größte deutsche Fernsehsender für die digitale Generation. Das Experiment, diesen Sender als E-Sport und Gaming Sender zu positionieren, scheitert. Die Wirtschaftskrise 2008 gibt dem Sender den Rest.

Doch 2009 öffnen sich nahezu zeitgleich vier magische Tore, in die Turtle Entertainment nur noch leichtgepanzert eintreten muss: DSL erreicht nun auch den deutschen Durchschnittshaushalt und Online-Portale wie Twitch liberalisieren das Streaming von Videospielen. Außerdem kann die Gaming-Community dank populärerer sozialer Netzwerke durch eigene Öffentlichkeitsarbeit exponentiell wachsen.
Das Geschäftsmodell der Spielehersteller synchronisiert sich mit dem von Turtle Entertainment. Will heißen: Online-Spiele wie Counter Strike oder League of Legends können sich erst im Long Tail als langfristig einsetzbare Disziplin des E-Sport beweisen. Im klassischen Retail-Modell wurden die Spiele nach etwa acht Wochen schon in die Zweitvermarktungskette bugsiert. Das aus Asien kommende Free-2-Play-Modell zur Monetarisierung von Inhalten schafft es nun, die Interessen von Turtle Entertainment und den Spieleentwicklern in Synergie zu bringen.
Als ihr Geschäft durch die Decke geht, sind die Jungs von Turtle Entertainment plötzlich alte Hasen in einem heranwachsenden Marktsegment. Sie wissen, wie man mit wenigen Ressourcen internationalen Zuschauersport inszeniert. Davon hört man auch in Polen. 2012 bietet ihnen der Referent des Kattowitzer Bürgermeisters den Spodek an – eine Mehrzweckhalle, die wie ein UFO aussieht und deshalb auch den polnischen Namen für „Untertasse“ trägt. Ein Jahr später richten sie gemeinsam das erste Turnier aus. Die Arena – ausgelegt für 11.500 Zuschauer – ist brechend voll. Liegt das überwältigende Interesse darin begründet, dass in 250 Kilometern Umkreis von Kattowitz zwar 29 Millionen Menschen leben, aber die Entertainment-Konkurrenz gering ist? Tatsache ist: Innerhalb von vier Jahren entwickelt sich die ESL zum größten E-Sport Event der Welt und katapultiert den E-Sport in den Mainstream.
Die magischen Tore öffnen sich

Die jahrelangen Kämpfe mit Politik und Presse, die die Unternehmer mit Engelhardt Kaupp Kiefer an ihrer Seite ausgetragen haben, sind seltener und weniger aggressiv geworden. Lange aber wurden Videospiele, wie jedes neue Medium, als „das neue Böse“ wahrgenommen. Zusätzlich bescherten die Amokläufe der Nuller Jahre den Unternehmern „hunderte Momente von Schmerz und Trauer“, ausgelöst durch Diskussionen um deutlich rigidere gesetzliche Vorschriften für Computerspiele. Vielen Investoren wurde das zu heikel: Einer zog sich sogar kurz nach der Unterschrift wieder zurück. Über Weihnachten musste Jens Hilgers damals einen komplett neuen Investment-Prozess mit Investment-Memorandum aufsetzen.

Die Gesellschaft fürchtet sich immer vor Dingen, die sie nicht versteht.
Die Angst, Menschen noch unerforschten Einflüssen ohne Anleitung auszusetzen, sei immer groß, sagt Ralf Reichert. Heute lache man sich kaputt über die sittenwidrigen Texte des Rock ’n’ Roll. In den 1960er Jahren aber fürchtete man das Ende des Abendlandes. Wären Computerspiele vor dem Buch erfunden worden, führt er ein Gedankenspiel aus, hätte man Angst gehabt, weil das Buch keine Bilder enthalte und den Leser seiner Fantasie überlasse; weil es, anders als Computerspiele, alleine und körperlich passiv konsumiert werde. „Die Gesellschaft fürchtet sich immer vor Dingen, die sie nicht versteht. Und diesen Kampf haben auch wir geführt.“ Gäbe es einen einfachen kausalen Zusammenhang, gibt Reichert zu bedenken, müsste jeden Tag ein Amoklauf stattfinden – denn in Deutschland spielten derzeit über zehn Millionen Menschen Egoshooter. „Genauso wie bei anderen Medien sind deren Nutzer zu 99,9 Prozent in der Lage, zu differenzieren. Und die 0,1 Prozent sind immer ein Risiko.“ Für sie gebe es Aufklärung und Aufnahmestellen. Und auch betroffene Familien fänden Unterstützung.

2014 schafft Turtle Entertainment den Sprung über den Großen Teich – eine ertragreiche Eroberung, die dem Unternehmen heute über 30 Prozent seines Umsatzes einfährt. Engelhardt Kaupp Kiefer sehen ihre Zeit gekommen und kündigen im Mai desselben Jahres ihren Exit an. Reichert würde die Kräfte lieber in weiteres Wachstum stecken. Aber herauszufinden, dass der Wert der E-Sport Firma drei bis vier Mal höher liegt als erwartet, erfreut ihn durchaus. In den 15-monatigen Verhandlungen setzt sich das bisherige gute Teamwork trotz Meinungsverschiedenheiten fort. Die starken Freundschaften – geprüft durch die diffuse Vision, in die sich Engelhardt Kaupp Kiefer inhaltlich kaum eingemischt haben, das Alltagsgeschäft, Amoklaufdiskussionen und die Wirtschaftskrise – halten auch nach 15 Jahren. Hilgers ist dankbar: „Obwohl die Verhandlungen hart waren, sind alle trotz unterschiedlicher Interessen zufrieden mit dem Deal nach Hause gegangen. Das ist nicht zuletzt Engelhardts Stärke und ruhigen Art zu verdanken. Er hat nie nur für sich selber, sondern immer auch für die Gruppe verhandelt.“
Der Sprung über den großen Teich – und der Exit

Eine der signifikantesten Transaktionen in der E-Sport Industrie
Der richtige Partner, der auf globaler Ebene ein Entertainment-Unternehmen aufbaut, steht schon bereit: Hilgers und Reichert entscheiden sich 2015 für die internationale Unterhaltungsgruppe MTG mit Sitz in Stockholm. Ihr sind 74 Prozent der Unternehmensanteile 78 Millionen Euro wert. „Es war eine der signifikantesten Transaktionen in der E-Sport Industrie, die dem E-Sport als Ganzes und der ESL selbst maßgeblich geholfen hat, weiter zu wachsen.“, sagt Jens Hilgers stolz. Spätestens jetzt erweist sich die Mission als geglückt. Und die ewigen Grundsatzfragen, ob E-Sport überhaupt ein Sport ist und aus der Vision „mal was wird“, erübrigen sich. „Die Grenzen zwischen der physischen Welt und der digitalen Realität verschwimmen immer mehr. E-Sport ist ein Teil dieses Verständnisses, wo und wie du dich selber definierst, soziale Beziehungen pflegst und – in der Zukunft – dein Geld verdienst. Es wird langfristig die Sport-Entertainment-Industrie dominieren.“